Krisen und Katastrophen werden von Politikern gerne dazu genutzt, Dinge zu tun, die sie schon immer tun wollten, aber nicht konnten. So auch auf europäischer Ebene. Lange Zeit galten Eurobonds und überhaupt das Konzept einer EU als Haftungsverein als undurchsetzbar in Deutschland. Noch am 26. Februar 2018 beschloß der Berliner Parteitag der CDU: „Wir erteilen jeder Vergemeinschaftung von Schulden und Haftungsrisiken eine klare Absage.“
Zwei Jahre später wurde auch dieses Versprechen gebrochen. Am Montag vergangener Woche präsentierten Angela Merkel und Emmanuel Macron ihre eigene Version der abgestandenen Eurobond-Idee: einen 500 Milliarden Euro schweren, kreditfinanzierten „Wiederaufbaufonds“. Ob das Geld wirklich zur Gänze verschenkt wird oder teilweise zurückgezahlt werden muß, wird sich noch herausstellen. Die Agentur Bloomberg sprach von einem „Tabubruch Merkels“.
Und wie reagierten die Deutschen? Laut einer vom Spiegel in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage halten 51 Prozent den Wiederaufbaufonds für richtig. Besonders hoch ist die Zustimmung bei Wählern der SPD, der Grünen und der Linken. „Es reicht aus, Unsinn zu systematisieren, damit er zur Meinung vieler wird“, erkannte Nicolás Gómez Dávila. Nur von den Wählern der FDP und der AfD kam ein klares Nein.
Der Fonds ersetzt die berüchtigten Eurobonds und ist ausbaufähig
Daß die Mehrheit der Deutschen plötzlich gut findet, was vorher als ganz schlecht galt, spricht für die Expertise der Verpackungskünstler in Brüssel, Berlin und Paris. Der Trick besteht darin, daß nicht die Regierungen gemeinsam an den Kapitalmarkt gehen, sondern daß sich die EU-Kommission selbst verschuldet, daß der neue Fonds über den Brüsseler Haushalt läuft und daß von den einzelnen Staaten erwartet wird, daß sie die Wiederaufbau-Anleihen in späterer Zukunft je nach Höhe ihres Beitrages zum EU-Budget tilgen.
Damit ist der Fonds nicht identisch mit den berüchtigten Eurobonds, deren Ausgestaltung ohnehin nie geklärt wurde. Er ersetzt sie vielmehr, und er ist ausbaufähig. So oder so wird das Tor zur Schuldenunion aufgestoßen. Daß der Lissabon-Vertrag der EU-Kommission die Aufnahme von Schulden verbietet, daß schon wieder europäisches Recht gebrochen wird – geschenkt.
Merkel versprach eine „außergewöhnliche, einmalige, zeitlich befristete Kraftanstrengung“. Ihr das zu glauben setzt ein wirklich außergewöhnliches Maß an Vergeßlichkeit und Naivität voraus. Alles sollte „einmalig“ sein seit dem ersten, 2010 aufgelegten Hilfsprogramm für Griechenland. Nach dem 1. Juli, wenn Berlin die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt, wird sich deutlicher abzeichnen, was auf den deutschen Steuerzahler zukommt.
Eine mühsam kaschierte neuerliche Eurorettung
Die Regierung Merkel wird sich großzügig zeigen. Das Intermezzo moderater deutscher Nettobeiträge zum EU-Haushalt geht zu Ende. Zur Erinnerung: von 1976 bis 1990 wurde die Umverteilung in der EU zu 60 Prozent von der Bundesrepublik bestritten und in den vier Jahren nach der Wiedervereinigung zu 73,7 Prozent. Hinweis an unsere Freunde in Paris und Rom: Deutschland ist nicht reich, sondern leistungsfähig, sagte Rolf Peter Sieferle.
Aus realpolitischer Sicht ist das 500-Milliarden-Paket Ausdruck und Konsequenz einer gravierenden Machtverschiebung innerhalb der EU. Erstens haben die marktwirtschaftlich orientierten, stabileren Nordeuropäer einschließlich Deutschlands mit dem Brexit ihre Sperrminorität in den EU-Entscheidungsgremien verloren – der Club Med mit Frankreich an der Spitze kann mehr durchsetzen als jemals zuvor. Zweitens erfährt die Kommission, die die Gelder verteilen darf, einen enormen Machtzuwachs – in einer Welt der Schulden ist der Sparsame der Dumme, er kann nur noch protestieren. (2019 waren die renitenten Tschechen, Dänen und Schweden nur mit einem runden Drittel ihres Bruttoinlandsproduktes verschuldet, Frankreich und Spanien hingegen mit rund 100 Prozent und Italien mit über 130 Prozent.)
Und drittens verbirgt sich hinter dem Wiederaufbaufonds eine nur mühsam kaschierte neuerliche Eurorettung. Denn die eigentlichen Profiteure des Wiederaufbaufonds werden nicht die Länder sein, die ihre nationalen Währungen behalten haben, sondern diejenigen, die der Euro an den Rand des Ruins getrieben hat. Daß die gesamte EU wieder einmal mißbraucht wird, um die dysfunktionale Eurozone zu stabilisieren, bestätigt nachträglich die Argumente der britischen „Brexiteers“.
Deutschland soll zahlen, ohne zu dominieren
Und was ist von der arg strapazierten „europäischen Solidarität“ zu halten? Die französische „solidarité“ bedeutet juristisch nichts anderes als „kollektive Haftung“. Wie passend. Die heute gängige politisch-moralische Aufladung geht zurück auf Theorien der sozialistischen Vordenker Louis Blanc und Pierre-Joseph Proudhon.
Selbstverständlich muß Deutschland daran interessiert sein, daß es nach der Corona-Krise in Frankreich und Südeuropa wieder aufwärtsgeht. Zum Beispiel könnten unsere Partner ihre verkrusteten ökonomisch-bürokratischen Systeme reformieren. Oder die Kommissionspräsidentin könnte ihren wahnhaften „Green Deal“ entsorgen und wenigstens einen Teil der dafür ausgelobten 1.000 Milliarden für vernünftige Zwecke verwenden. Oder Deutschland könnte mit der direkten Vergabe von Krediten und Investitionen nach Südeuropa die wertlosen Target-Forderungen der Bundesbank (zuletzt 935 Milliarden) kräftig zurückführen.
Am 6. Mai schrieb die Neue Zürcher Zeitung, die Europäischen Gemeinschaften seien ebenso wie die Nato mit dem Ziel gegründet worden, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten. Heute ist zu hören, Deutschland solle führen, ohne zu dominieren. Seit Ausbruch der Eurokrise 2010 hat sich der Verdacht erhärtet, daß mit Führung vor allem Zahlungsbereitschaft gemeint ist.